Schränkt ein Wirtschaftsstudium die Kooperationsfähigkeit ein, oder was kann man da hinzulernen? Als Selbstversuch habe ich mich zum Herbstsemester 2016 an der Universität St.Gallen eingeschrieben, mit nachfolgenden Erkenntnissen.
16.9.2016: Kick-Off Day an der Uni St.Gallen. Das Academic Programme verspricht eine "Ovation for Innovation". Der Avenir Suisse & Zurich Airport Gastreferent Andreas Schmid nutzt die Gelegenheit, um gegen die Regulierungsflut zu wettern. Diese soll angeblich Innovation behindern. Nachfolgend meine erste Frage an den Herrn der Wirtschaft.
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Werter Herr Andreas Schmid
Ich habe ihr Referat am HSG Kick-Off Days verfolgt; leider hatte ich nicht die Gelegenheit, meine Frage zu stellen.
Das Kodak-Beispiel von Prof.Gassmann illustriert, dass Innovation nicht nur reich macht, sondern auch etabliertes Geschäft vernichten kann. Ich denke hier u.a. an die Opposition der etablierten Energieunternehmen gegen erneuerbare Energien. Oder - in Ihrem Bereich Flugverkehr - wie wäre es, wenn international operierende Unternehmen konsequent auf Web-Konferenzen setzen? (Oder besser Bürogemeinschaften, bei denen der Kollege auf der anderen Seite der Welt virtuell gerade vis a vis sitzt?)
Ich habe Ihren Ausführungen entnommen, dass wir Innovation brauchen, um führend zu bleiben. Für mich ist das Aufrechterhalten globaler Einkommensungleichheit kein Ziel per se. Teilen Sie meine Ansicht, dass Innovation nötig ist, um zukünftige Herausforderungen zu meistern? Beispielsweise: Wie können wir mit beschränkten natürlichen Ressourcen Wohlstand aufrecht erhalten und global weiter entwickeln? Der haushälterische Umgang mit knappen Ressourcen ist eine gegebene Notwendigkeit, nicht ein politischer Wunsch. Um ökonomisch die notwendige Entwicklung aufzugleisen, brauchen wir zum Glück für Avenir Suisse kein zusätzliches Gesetz - vielmehr könnte z.B. das CO2-Gesetz stark vereinfacht und verschärft werden, wenn nicht mit Spezialregelungen auf diverse Partikular-Interessen Rücksicht genommen würde. Was spricht gegen die Internalisierung negativer externer Effekte? Wenn wir internationale Regeln vernachlässigen, müssen wir Flugbenzin nicht von der Lenkungsabgabe befreien, sodass Anreiz für Innovationen wie virtuelle Global-Bürogemeinschaften aufblühen. (Wovon der Flughafen Zürich womöglich eher nicht profitiert.)
Daron Acemoglu nennt das schöpferische Zerstörung. Es ist nachvollziehbar, dass etablierten Geschäftsleute u.a. mit politischer Einflussnahme schöpferische Zerstörung zu vermeiden versuchen. Wenn diese Lobby zu stark ist - wie in Entwicklungsländern - bleibt Innovation unterdrückt. Wie stehen Sie unter diesem Aspekt zum Thema grüne Wirtschaft? Wie schon Adam Smith erkannte, unterscheiden sich die Interessen von Gewerbetreibenden von jenen der Allgemeinheit - und politische Einflussnahme von Gewerbetreibenden ist nicht unbedingt förderlich für die Nation als ganzes...
Danke für das Teilen Ihrer Erfahrung. Bei Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
Mit sonnigen Grüssen
Henry Lüthi
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Nach einem Workshop, wo "innovative Ideen" zur Bekanntmachung der Grüngut-Sammlung in St.Gallen gesucht sind, gibt's noch eine tolle Tombola - als Anreiz, damit die Studenten bis zum Schluss bleiben? Dafür wissen wir jetzt ausgiebig über das sponsernde Hotel Einstein bescheid. Als suffiziente Person hatte ich jedoch keine Gewinn-Chance: Ausgelost wurden Serien-Nummern der "high-quality" Unisg-Taschen, die ich beim Empfang dankend abgelehnt hatte.
20.9.2016: Die erste vielversprechende Vorlesung: "Der Störenfried in Wirtschaft und Politik". Mit der kritischen Frage zur "Ovation for Innovation" habe ich mich bereits etwas als Störenfried positioniert - zum Ende meines Wirtschaftsgymnasiums hat uns der Rektor auf den Weg mit gegeben: "Seien Sie unbequem." Die philosophische Vorlesung verspricht interessant zu werden, da sich sowohl Liberalismus wie auch Kommunismus aus dem Wirken von Störenfrieden entwickelt hat. Heute stören Occupy und Wikileaks den "Frieden". Die schöpferische Zerstörung scheint vor Acemoglu auch schon für Schumpeter (1911) essenziell gewesen zu sein, und ich freue mich, mich mit dem "liberalen Kampf gegen den Konformismus" auseinander zu setzen. Frühe Liberale wie John Stuart Mill (1857) scheinen dem "Business as Usual" deutlich kritischer gegenüber gestanden zu sein als angeblich liberale FDP-ler heute. Für Fortschritt braucht es Non-Konformismus - auch wenn nicht alles zielführend sein mag - um sich evolutionär neuen Umständen anpassen zu können, braucht es Offenheit für Mutation.
23.9.2016: Mikro & Makro. Das Vorurteil, dass ein VWL-Studium mehr mit Mathematik zu tun hat als zur Lösung aktueller Herausforderungen beiträgt, scheint sich zu bestätigen. Als Ingenieur fürchte ich mich nicht vor logarithmischen Ableitungen. Aber welchen Sinn macht es, in der Bachelor-Mikroökonomie mit komplexen Nutzenfunktionen rumzurechnen, nur um irgendwann im Master-Studium zu diskutieren, wo die Grenzen dieser Formeln liegen? Zumindest mein Verhalten ist mit dem Modell kaum erklärbar, da es "Nicht-Sättigung" voraussetzt. Wenn ich Geld spare, so tue ich dies nicht zwingend um später mehr zu haben oder weil ich eine spezielle Präferenz dafür habe, sondern weil es einfach übrig bleibt, wenn ich aus Vernunft auf übermässigen Konsum verzichte. Ich mag durchaus eine Präferenz für Ferien in Asien haben, und es ist keine Budget-Restriktion die mich davon abhält, sondern mein ökologisches Gewissen. Soviel zum Konsumentenverhalten. Ich bin gespannt, inwiefern bezüglich Produzentenverhalten neben dem klassischen Fall à la Riccardo (aus der Landwirtschaft abgeleitet) auch die Economy of Scale der Industrie in die Mikroökonomie Eingang gefunden hat. Fall à la Riccardo: Steigt die Nachfrage nach Erdöl, so steigt der Preis, da neue, weniger ergiebige Felder zur Produktion beigezogen werden. Economy of Scale: Verzehnfacht sich die Nachfrage nach Solarmodulen, so halbiert sich deren Preis. Immerhin interessant ist die Brücke von der Preis-Elastizität ins Marketing. Tesla Motors vervielfacht die Nachfrage nach Elektrofahrzeugen mit der Ankündigung eines Preises, der erst mit diesem hohen Marktvolumen möglich sein wird. Um auf diese Idee zu kommen, muss ich jedoch nicht U(X,Y) = (X hoch ro +Y hoch ro) hoch 1-ro nach ro ableiten...
Da die richtige Welt zu kompliziert ist, mögen vereinfachte Modelle zum Verständnis gewisser Mechanismen hilfreich sein. So argumentiert auch die Makroökonomie. Über Geld- und Fiskalpolitik kann man mit dem IS-LM-Modell und dem Keynsianischen-Kreuz wunderbar fachsimpeln, und dem Experte ist auch die begrenzte Anwendbarkeit bewusst. Aber wieso sollen tausende Wirtschafts-Studenten Theorien auswenig lernen, die in der Praxis scheinbar nicht so wirken, wie sie sollten? Aus der "volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" lässt sich (gemäss Keynes) ableiten, dass wenn der Staat 1 CHF mehr ausgibt, das Volkseinkommen um 1/(1-c) steigt, wobei c = C (Konsum) / Y (Einkommen) die Grenzneigung zum Konsum sei. [Weil C (Konsum) = Y (Einkommen) - T (Steuern) - S (Sparen) resultiert Y = (I (Investitionen) +G (Staatsausgaben) +NX (Nettoexporte))/(1-c), logisch]. Mit c bezeichnet man in der Mathematik üblicherweise Konstanten. Nur vermute ich, dass man sich c vielleicht als Konstante wünschen kann; aber die Konsumenten haben womöglich anderes im Kopf, als unbedingt ihre prozentuale Grenzneigung zum Konsum bei erhöhtem Einkommen konstant zu halten. Vielleicht sparen sie mehr, aber niemand investiert - da haben wir den Salat - also, was soll die Rechnung? Mit dem IS-LM-Modell, mit Geldmenge und Geldnachfrage, mag man noch die Zinsmechanismen vertiefen. Aber bevor man von Geldmengen spricht sollte man aus meiner Sicht das Fiat-Geld-Konzept kritisch hinterfragen. Wirtschaftsstudenten über innovative, nachhaltige Geldsysteme hirnen zu lassen könnte produktiver sein als das büffeln von Formeln, an die sich die Realität nicht halten will.
Nach einer Woche HSG kann ich somit beruhigt feststellen, dass ich keinen Fehler gemacht habe, als ich mich vor 17 Jahren gegen ein VWL-Studium entschieden habe. Nach der Mikroökonomie-Vorlesung klingelt ein Mazedonier an unserer Haustüre: Er bittet um ein Almosen für eine Herzoperation seiner 4jährige Tochter. 3000 EUR hat er ausgegeben, um hier sein Glück zu versuchen? Das ist kein rationales Konsumentenverhalten, und scheinbar hat die tollste Liberalisierung der ehemals sozialistischen Staaten nicht dazu geführt, dass es in Mazedonien ein funktionierendes Gesundheitswesen gibt. Aber das sind die Herausfordernungen der Realwirtschaft - diese will ich studieren und evolutionieren.
28.9.2016: Mikroökonomie und Praxis. Während der Mikroökonomie-Professor mittels Lagrange-Transformation die Budgetrestriktion mit der Nutzenfunktion vereint, beschäftigt mich ein Praxisfrage. Eine nicht-börsenkotierte Aktie einer Teak-Plantage-Unternehmung, die frühestens bei der Schlussernte in 10 Jahren - je nach Wachstum und Holzpreis - Cash ausschütten kann, hat einen Nennwert von 1000 CHF und einen inneren Wert gemäss aktueller Bilanz von 212 CHF. Kurz nach der "Wende" wurden ostdeutsche Kleinsparer zur Zeichnung der vielverprechenden Schweizer-Aktien angeworben, einge leben heute an der Armutsgrenze und möchten zumindest etwas Geld zurück. Nun wird ein Fenster zum Handel der Aktien geöffnet, willige Verkäufer und Käufer können minimal- bzw. maximal Preise und Volumen angeben. Vollständige Information ist alles andere als gegeben, und die Zahlunsbereitschaft hängt stark vom Optimismus bezüglich Holzpreis und der Renditerwartung ab. Oder ich kaufe auch aus Mitleid mit den verzweifelten Verkäufern und halte die Austockung der kleinen Aktienposition für sinnvoller als alternative Anlagemöglichkeiten. Nehmen wir an, folgende Kauf- und Verkaufgebote treffen ein.
Gemäss Mikroökonomie kann man das Markt-Gleichgewicht mit einem Preis und Volumen bestimmen - 300 CHF, 70 Stück werden zu dem Preis gehandelt - obwohl gewisse Käufer durchaus mehr zu zahlen bereit waren und gewisse Verkäufer mit weniger zufrieden wären. Ist es unfair, wenn man hoch-zahlungswillige Kaufgebote mit hoch-fordernden Verkäufer paart und so mehr Umschlag ermöglicht? So könnten bis zu 160 Aktien neue Käufer finden - kann man das nicht eher Markträumung nennen als die Aushandlung eines Einheits-Marktpreises? Ich bin mir selbst nicht sicher, ob ich die Variante begrüssen würde - jedenfalls wäre sie zugunsten der Not-Verkäufer, die nicht 10 Jahre auf unsicheren Payback warten können. Offensichtlich scheint auch, dass die Mikroökonomie-Vorlesung zur Beantwortung diese Praxisfrage wenig beiträgt.
7.10.2016: Hoffnung hatte ich noch für die Vorlesung "Entwicklungsökonomie" - was ist die Ursache von Armut und Reichtum? Die Frage beschäftigt mich. Der Professor stellt eine komplexe Formel auf und transferiert sie wiederum komplex mathematisch, um statistisch nachzuweisen, dass 1 Jahr zusätzliche Schulbildung zu x% mehr Einkommen führt. Die nächste Übungsaufgabe erfordert wiederum beachtliche Rechnungskünste: Der Formel zufolge wird das Bruttosozialprodukt am höchsten, wenn der Staat die Steuern auf null setzt. Naja, das ist ja nur ein mathematisches Modell - es mag gewisse Effekte der Realität annähernd beschreiben, ist jedoch nur so gut und glaubwürdig wie der Formel-Autor. Inwiefern bringt uns das weiter?
Meine Frage, wie weit der Einfluss vom Energiezugang auf die volkswirtschaftliche Entwicklung erforscht ist (wie sie Ian Morris in "Why the West Rules" empirisch beschreibt), stösst auf wenig Verständnis. Seine Gegenfrage, ob ich denn ein Modell hätte, animierte mich zum nachfolgenden "Modell-Entwurf" (siehe pdf). Die Bedeutung der Energie scheint dem Professor wohl nicht beachtenswert, jedenfalls habe ich nie eine Antwort erhalten. Und nachdem ich erfahre, dass ich meine Semesteranmeldung noch zurückziehen kann, beende ich meinen Einblick in die Uni St.Gallen. Mit dem guten Gefühl, dass es richtig war, Betriebs- und Produktionswissenschaften studiert zu haben statt VWL. Volkswirtschaft ist zwar die Lehre interessanter und äusserst relevanter Themen, doch wenn das 2jährige Studieren komplexer Modelle und anschliessende 2jährige Hinterfragen der Modelle wirklich was bringen würde, müssten die VWL-Absolventen mehr zur Lösung der Herausforderungen unserer Zeit beitragen können.